Erlesene Schätze

Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Die erste Gesamtausgabe der Lutherbibel, ein 1,12 Meter großes Buch aus dem Jahr 1817 und Stammbücher mit Einträgen von Galilei und Keppler: Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, völlig zu Recht Teil des UNESCO-Welterbes „Klassisches Weimar“, hütet enorme Kostbarkeiten. Und das in atemberaubender Kulisse. Allein der grandiose Rokokosaal verschlägt einem die Sprache.

„In Bibliotheken fühlt man sich wie in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.“ Große Worte des großen Goethe. Und sie treffen auf die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in besonderem Maße zu. Um im Bild zu bleiben: Besucher erwartet dort eine extrahohe Rendite. Schließlich verkörpert die bei Wissenschaftlern wie Besuchern geschätzte Sammlung sowohl eine öffentliche Bibliothek als auch ein sehenswertes Museum, ein bedeutendes Archiv und Forschungsinstitut sowieso. Und sie ist ein Ort, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint. „Die einen haben eine enge Bindung zum Buch“, beschreibt Direktor Reinhard Laube „seine“ Klientel, „aber anderen bietet unser Haus digitalen Mehrwert“.

Es geht also wie vielerorts auch in Laubes Haus um die Gretchenfrage, wie man es im 21. Jahrhundert mit dem Buch hält. Doch statt Print oder Digital heißt es hier und! Mal vom XXL-Archiv der digitalisierten und für jeden einsehbaren Werke abgesehen, können Handybesitzer mittels QR-Codes in kostbare Schriften blicken. Zudem finden sich zwischen Gemälden historischer Persönlichkeiten viele moderne Elemente. Wie etwa das Bildschirmquiz im ersten Stock. Neun Fragen, je drei Antwortvorschläge. Also, losgeklickt! Das kleinste Buch der Bibliothek? Lösung: vergleichbar mit einem Sesamkorn! Das größte Buch im Haus? Misst 1,12 Meter! Wie viele Bücher lagern hier insgesamt? Richtig: 1,1 Millionen! Wobei hierzu neben dem Schwerpunkt – Sammlungen zur europäischen Kunst- und Literaturgeschichte zwischen 1750 und 1850, darunter die weltgrößte Faust-Sammlung – noch mehr gehört: Musikalien, Karten, Globen und ein Rekordbestand an Stammbüchern aus der Zeit von 1550 bis 1950, inklusive Einträgen von Galileo Galilei, Johannes Kepler und Louis Spohr. „Eine Art ganz, ganz frühes Facebook“, schlägt Laube den Bogen ins Jetzt.

Gefühlte Vorfreude

Auffällig: Das Thema Buch wird mit allen Sinnen angesprochen. Einmal erklingt aus einem Lautsprecher das Umblättern von Buchseiten, nebenan macht ein Tastmodell den Campus be-greifbar. Spürbar im Fokus: das 3D-Haupthaus samt den Anbauten, die nach der Rokoko-Umgestaltung des grünen Renaissance-Schlösschen 1760–66 als Behältnis für die Bibliothek hinzukamen. So auch der Coudray-Anbau, in dem man sich gerade aufhält.

Nicht mehr lang, es wartet der Rokokosaal! Dass hinter den hohen Türen hohe innere Werte schlummern, suggeriert bereits der Museumswärter. Freundlich zeigt er auf eine Kiste mit Filzlatschen, die man über die Schuhe stülpen möge. „Um den Boden zu wischen“, witzelt der Mann. Und was ist mit Handschuhen? Unnötig, weil man sich zwar manch Lektüre zur Einsicht bestellen könne, aber im Raum selbst nichts anfassen dürfe. Laube kündigte ja auch keine Lesebibliothek an, sondern „einen Festsaal des Buches“.

Andachtsstimmung im Allerheiligsten

Tempel hätte auch gepasst. Denn wer den Saal von 1766 betritt, ist schlicht ergriffen. Andächtig. Sprachlos. Und das inmitten derart vieler Wörter, die hier in zigtausenden Büchern stehen. In dem sich über zwei Galerien erstreckenden, ovalen Saal werden diese in bestes Licht gesetzt. Dafür sorgen viele Fenster, abgerundete, teils mit goldglänzendem Schlagmetall versehene Regale, ein Deckenfresko. Rokoko vom Feinsten! Für Klassik-Touch sorgen Büsten von Gelehrten und Größen der damaligen Zeit, inklusive Herder, Wieland, Goethe und Schiller, dessen angeblich hier gelagerter Schädel vor Jahren für eine Lokalposse sorgte. Am Ende kam raus: Es handelte sich, wenig überraschend, doch nicht um das Schillersche Haupt. Echt hingegen ist das Bildnis von Herzog Carl August, Förderer einer der ersten öffentlich zugänglichen Fürstenbibliotheken in Deutschland. Noch größeres Engagement zeigte dessen Mutter Herzogin Anna Amalia. Dass die Bibliothek seit 1991 ihren Namen trägt: absolut gerechtfertigt.

Mit Voranmeldung öffnen sich die Türen zur Vulpius-Galerie im dritten Stock. Dort können Besucher sich Bücher vorlegen lassen und/oder den Rokokosaal aus erhabener Perspektive sehen. Dabei fällt ihr Blick auch auf die verkohlte Balustrade, eine Erinnerung an den schlimmsten Bibliotheksbrand Nachkriegsdeutschlands. Vermutlich ein Schwelbrand zerstörte am 2. September 2004 mehr als 50.000 Bände, Kunstwerke und Gebäudeteile. Ein Wunder, dass Tausende „Aschebücher“ (mit 1,5 Millionen Blatt) restauriert werden konnten – und immer noch werden.

Richtig modern geht es im Studienzentrum gegenüber zu. Im Mittelpunkt des mit dem Thüringer Staatspreis für Architektur und Städtebau ausgezeichneten Baus von 2005 steht der Bücherkubus. Das Etikett „Festsaal des Buches“ passt hier ebenfalls. Wenngleich statt ovaler Schnörkelei klare Kanten, Sessel und noch mehr Bücher, diesmal alle zum Anfassen, warten. Ein idealer Raum für Recherchen, Vorträge, Lesungen, kurz: den Austausch, laut Laube ohnehin die „künftige Mega-Aufgabe von Bibliotheken“. Auf jeden Fall handelt es sich auch hier um einen Ort, der hohe Zinsen spendet.

 

 

Jetzt gibt es was auf die Ohren!

Die von der Klassik Stiftung Weimar angebotene Gratis-App „Weimar+“ ist ein echtes Plus. Den kurzweiligen Episoden können Besucher in jedem Raum der Bibliothek lauschen (sowie an anderen Sehenswürdigkeiten), bei Bedarf auch später. Und wer nicht hören will, kann lesen: die Transkriptionen.

 

Titelbild: ©Jens Hauspurg, Thüringer Tourismus GmbH 

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