Erfurter Kulturschätze

Ausflüge ins jüdische Leben einer Stadt

Von spannender Stadtgeschichte, wertvollen Funden und einer mittelalterlichen Gemeinde – Ausflüge ins jüdische Leben Erfurts

Wenn man einen Moment sucht, an dem man einsteigen kann in die Geschichte, einen Augenblick, der die 900 Jahre jüdische Kultur in dieser Stadt unter das Vergrößerungsglas rückt: dann ist das jener Tag im Jahr 1998, an dem ein Erfurter Bauarbeiter auf einem Grundstück in der Michaelisstraße ein Stück Metall aus dem Boden zog. Ein alter Zinnteller, dachte er.
Er irrte sich. Es war kein Zinn, sondern Silber. Und es war auch bloß der Anfang. Dort, unter der Mauer eines Kellerzugangs verborgen, lagen Silbermünzen und über 700 Schmuckstücke aus dem Mittelalter, viele von ihnen einzigartig. Der Erfurter Schatz war aber nicht der einzige aufregende Fund in dieser Zeit. Wenige Jahre zuvor hatte man die Alte Synagoge aus dem Mittelalter wiederentdeckt und begonnen, sie zu restaurieren. Beides waren wichtige Puzzleteile für die Rekonstruktion des bedeutenden jüdischen Erbes der Stadt. Und für die heute in Erfurt lebenden Juden und für jüdische Gäste ist dies vielleicht der allergrößte Schatz – die Kontinuität ihrer Kultur in Thüringen durch so viele Jahrhunderte, trotz aller Brüche. Dies feierte das Land im Jubiläumsjahr 2021 in vielen Städten und Gemeinden.

Blick auf die Alte Synagoge Erfurt

Blick auf die Alte Synagoge Erfurt ©Martin Kirchner, Thüringer Tourismus GmbH

Eine Kehila mit Mikwe, Synagoge und Friedhof

Das Herz des jüdischen Lebens in Thüringen war schon damals Erfurt: Die Stadt war im Mittelalter eine der größten Siedlungen des Heiligen Römischen Reichs, ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum an der Kreuzung wichtiger Handelswege. Ab dem späten 11. Jahrhundert gab es dort auch eine jüdische Gemeinde. In den Aufzeichnungen wurde sie als Kehila bezeichnet, so nennt man Gemeinden mit Synagoge, Friedhof und Ritualbad, der Mikwe. Doch dann brach in Europa die Pest aus, und man beschuldigte die Juden, die Brunnen vergiftet zu haben. Auch die jüdischen Menschen in Erfurt befürchteten das Schlimmste; in dieser Gefahrensituation versteckten und vergruben sie ihre Wertsachen. Auch der Bankier Kalman von Wiehe tat das. Vermutlich gehörte ihm jener Schatz, der dann 1998 gefunden wurde. Knapp 650 Jahre nach dem Pogrom von 1349 und ein halbes Jahrtausend, nachdem der Erfurter Stadtrat die jüdische Gemeinde vertrieben hatte. Und was ist das für ein Schatz!

Gotische Goldschmiedekunst

Er hat ein stolzes Gesamtgewicht – etwa 29,5 Kilogramm. Den größten Anteil haben 3.141 Silbermünzen sowie 14 silberne Barren verschiedener Größen und Gewichte. Außerdem enthält der Fund über 700 Einzelstücke gotischer Goldschmiedekunst in teilweise exzellenter Ausführung – darunter ein einzigartiger goldener Hochzeitsring aus dem frühen 14. Jahrhundert (siehe Kasten). Schon gewusst? Historiker bezeichnen die Gotik als eine schmuckfreudige Epoche. Aber was das wirklich heißt, das versteht man erst, wenn man sich die kunstvollen Ringe und Broschen heute ansieht. Frauen wie Männer haben sie getragen und oft auch mehr als ein Schmuckstück. Kalmans Reichtümer sind heute in der Alten Synagoge ausgestellt, die zusammen mit der Begegnungsstätte Kleine Synagoge ein paar Schritte weiter und der Neuen Synagoge am Max-Cars-Platz das Herzstück des jüdischen Erfurt bildet. In den vergangenen Jahrhunderten diente die Alte Synagoge aus dem Mittelalter zuerst als Lager und später dann als Gast- und Caféhaus mit angeschlossenem Tanzsaal und Kegelbahn (während der Zeit des Nationalsozialismus blieb die Synagoge unerkannt und deswegen unbeschädigt).

 

Der Erfurter Hochzeitsring

Der Erfurter Hochzeitsring ©Florian Trykowski, Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Thüringer Tourismus GmbH

Der Hochzeitsring

Die hebräische Inschrift „mazal tov“ (viel Glück!) und ein Miniaturgebäude auf dem Hochzeitsring deuten darauf hin, dass er einen jüdischen Besitzer hatte. Da heute weltweit nur noch drei mittelalterliche Ringe dieser Art erhalten sind, ist er das wichtigste Stück des Erfurter Schatzes. Nach alter jüdischer Tradition besteht der Hochzeitsring nur aus Gold – und er wurde lediglich während der Hochzeitszeremonie getragen. An seiner Unterseite ist der Erfurter Ring, der fast fünf Zentimeter hoch ist, mit zwei ineinander gelegten Händen geschmückt, einem Symbol für eheliche Treue. Das Erfurter Prachtstück hat zudem ein charmantes Geheimnis: Wenn man den Ring bewegt, macht eine im Inneren liegende kleine goldene Kugel ein klingendes Geräusch.

 

Die Alte Synagoge - Museum und Exponat
Erst in den 1990er-Jahren wurde ihre ursprüngliche Bestimmung erkannt. Die am besten erhaltene Synagoge Mitteleuropas mit ersten Bauspuren aus der Zeit um 1100 ist also auch ein Zufallsfund – heute ist sie Museum und Exponat zugleich.

 

Dass jüdisches Leben schon sehr lange zu Erfurt gehört, dafür finden die Archäologen immer neue eindrucksvolle Beweise. Erst im Jahr 2007 haben sie die Mikwe entdeckt, ganz zentral am Ufer der Gera, gleich neben der Krämerbrücke. Zuvor wusste man zwar von ihrer Existenz (in Urkunden aus dem 13. Jahrhundert wird erwähnt, dass die jüdische Gemeinde Abgaben für sie leistete) – aber nicht, an welcher Stelle der Altstadt sich das Tauchbad genau befand.

Tief eintauchen in die Stadtgeschichte

Neben Synagoge und Friedhof gehört die Mikwe zu den wichtigsten Einrichtungen einer jüdischen Gemeinde. Das Becken dieses mittelalterlichen, seit Jahrhunderten nicht mehr genutzten Bads in Erfurt ist über ein Fenster in der Decke des Schutzbaus jederzeit von außen einsehbar. Besichtigen kann man die Mikwe aber nur im Rahmen einer Führung. Man steht im Vorraum, blickt auf das Tauchbecken und hat das Gefühl, tief einzutauchen in die Geschichte Erfurts. Einer Stadt, die ihre Geheimnisse erst nach und nach offenbart und dabei oft den Zufall zu Hilfe ruft.

Bald Weltkulturerbe?

Da es in Erfurt besonders wertvolle bauliche Zeugnisse mittelalterlichen jüdischen Lebens gibt, wird sich die Stadt darum bewerben, damit ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen zu werden.
Mehr zur Bewerbung erfahren Sie hier.

 

Headerbild ©Marco Fischer, Thüringer Tourismus GmbH


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