Im Wald baden

Entschleunigung in der ruhigen Atmosphäre des Waldes

Der Wald ist ein jahrtausendealter Kraftort, der uns ankommen und zur Ruhe kommen lässt. Daher verbringen dort immer mehr Menschen Zeit zur Regeneration. "Waldbaden" ist eine Bezeichnung dafür, ein „Bad“ in der Atmosphäre eines Waldes zu nehmen.

Ich bin schon nach 100 Metern total aus der Puste. Das ist mir peinlich, denn wir rennen nicht in Richtung Waldrand. Wir gehen gemächlich. Und weit ist es auch nicht. Folgende Ausreden fallen mir ein: Es ist ein heißer Tag. Mein Rucksack ist schwer. Ich versuche, mich nebenher zu unterhalten. „Tut mir leid, Nina“, sage ich, „irgendwie habe ich heute überhaupt keine Kondition.“

„Meinst du, das liegt an der Kondition?“, fragt Nina freundlich und ich höre ihr an, dass sie daran nicht glaubt. „Ines macht im Wald gleich mal ein paar Atemübungen mit dir. Du hattest bestimmt eine anstrengende Anfahrt.“ Normalerweise mag ich es nicht so gerne, wenn man mich dezent darauf hinweist, dass ich Stress haben könnte. Dann fühle ich mich irgendwie ertappt, so, als hätte ich mein Leben nicht richtig im Griff. Aber Nina sagt das so nett und mitfühlend, dass mir das richtig guttut. Stimmt, ich bin ganz schön fertig.

Der Wald, den wir ansteuern ist seit 2011 UNESCO-Weltnaturerbe – der Hainich. Im alten Buchenwald wartet Ines May auf mich. Sie ist Coach und wird heute mit mir in die Atmosphäre des Waldes eintauchen.

„Ihr solltet beim Betreten des Waldes einmal die Perspektive wechseln.“ Meint Ines. Und wie? „Ihr dreht euch einfach um, geht rückwärts!“ Ah, okay! Ich sehe vom Waldrand aus eine Wiese mit Büschen im gleißenden Sonnenlicht, den kleinen Kiesweg, auf dem wir hergekommen sind, ein paar flatternde Schmetterlinge und eine dicke Hummel, die summend meinen Weg kreuzt. Dann wird es plötzlich kühl und dämmrig. Als ich mich wieder umdrehe, stehe ich mitten in einer grünen, ja fast märchenhaften Halle, unter hohen Bäumen. Die Sommerhitze und die Alltagsgeräusche sind draußen geblieben. Dafür zwitschert laut ein Vogel. „Eine Mönchsgrasmücke“, meint Ines, „sie begrüßt euch im Wald.“ Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihrer Kurse gibt Ines in der Regel als erstes die Aufgabe, sich einen ruhigen Platz zwischen den alten Buchen zu suchen und dort eine Weile still auszuharren.

Was ist denn "Waldbaden"?

Braucht man dafür eine Badehose?

Waldbaden, in Japan Shirin Yoku genannt, ist eine Bezeichnung dafür, ein „Bad“ in der Atmosphäre eines Waldes zu nehmen. Also nicht Baden im klassischen Sinne. In Japan, Südkorea und Vietnam ist Shirin Yoku schon ein fester Bestandteil der Gesundheitsvorsorge. Die Ruhe des Waldes sorgt dafür, dass der Körper deutlich weniger Stresshormone ausschütten und der Blutdruck sinkt. Die Pflanzenduftstoffe, die von Bäumen ausgesondert werden, sogenannte Terpene, stärken das menschliche Immunsystem – das ist sogar wissenschaftlich erwiesen. Der Wald ist ein jahrtausendealter Kraftort, der uns ankommen und zur Ruhe kommen lässt.

Was hört man, wenn man in so einem Wald mal leise ist und sich Zeit nimmt? Sind es nur Vögel – oder auch andere, unheimliche Geräusche? Ist das Nichtstun überhaupt auszuhalten? Dass man über den Kontakt zur Natur leichter seine Mitte findet, davon ist Ines überzeugt. „Es geht letztlich darum, sich mit der Gegenwart, der Hier-und-Jetzt zu beschäftigen“ – eine klassische Achtsamkeitsübung also.

Eigentlich bin ich nur hier, um eine Reportage zu schreiben, aber irgendwie werden am Ende doch gleich ein paar Regenerationstage daraus: Mit Ines streifen wir durch die umliegenden Wiesen, lernen „Unkräuter“ und ihre wundersamen Wirkungsweisen kennen. Wir probieren bei ihr in Butter geröstete Brennnessel samen, Zucchininudeln, Gemüsegulasch, Holunderlimo und Rosensalz. Alles selbst gemacht und ein intensives Erlebnis für die Nase und die Geschmacksnerven. Und Nina begleitet uns als gute Seele durchs Programm.

Ich kehre noch einmal alleine in den Wald zurück. In der Abenddämmerung. Die letzten Sonnenstrahlen werfen lange Schatten über den weichen Waldboden. Ich lehne an einer Hainbuche und genieße das warme Licht auf dem Gesicht. Dieses Mal habe ich es ohne Kurzatmigkeit hergeschafft. Und statt des Gedankenkarussells rund um meinen viel zu vollen Schreibtisch, Versagensängste und zwei Kinder allein zu Hause bin ich voller guter Wünsche.

Ich möchte noch mehr Kräuter in meinem Garten anbauen, wieder mehr Sport und Yoga machen, mir endlich genug Zeit für mich und meine Lieben nehmen. Offener dem Leben gegenüber sein. Nicht immer alles festhalten wollen. Der Weg bis hierher war nicht wirklich weit. Ein paar Tage nur zur Ruhe kommen im ursprünglichen Buchenwald des Nationalpark Hainich.

Titelbild: ©2021 Simona Pilolla 2/Shutterstock.


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