Poesie des Puppenspiels und Verwandlung der Dinge – Theater Waidspeicher

Zeitgenössisches Puppentheater am Erfurter Domplatz

Den schönsten Blick auf den Domplatz hat man von der Werkstatt des Theaters Waidspeicher, dem Puppentheater der Stadt Erfurt. Während unten die Passanten an den vielen bunten Fachwerkhäusern vorbei schlendern, entstehen hier oben im Atelier unter den Händen von Kathrin Sellin und Nadine Wottke Puppen für die kommenden Produktionen. Auf einem Holzständer wartet ein Kopf aus Ton auf den Abguss, für eine bevorstehende Premiere werden gerade die letzten Fäden an den Puppenkostümen vernäht und ein Marionettenkreuz muss vor der nächsten Vorstellung kontrolliert werden. Die Spielerin Karoline Vogel kommt noch schnell für eine Anprobe vorbei, plaudert kurz mit uns und ist dann schon wieder auf dem Weg zur Probebühne. Obwohl gerade viel zu tun ist, wirkt die Atmosphäre in der Werkstatt fröhlich und entspannt.

Seit dreieinhalb Jahrzehnten hat das Theater seine Spielstätte zwischen Fischmarkt und Erfurter Dom in einem historischen Gebäude, in dem früher Färberwaid für Textilien gelagert wurde. Heute werden in dem restaurierten Speicher aus Puppen und Objekten Geschichten gewoben, die mal leise und verzaubernd sind, mal laut, überraschend und wild. Die dicht gewebte Poesie aus der Sprache der Dinge ist das, was die Inszenierungen des Theaters Waidspeicher so besonders macht und der Grund, weshalb ich jeden, der mich in Erfurt besucht, mit ins Puppentheater am Domplatz nehme. Oft sind meine Gäste überrascht, denn mit dem Kasperle hinter der Spielleiste hat das, was sie zu sehen bekommen, wenig zu tun.

Die ganz eigene Ästhetik und künstlerische Handschrift des kleinen Theaters liegt in der Begegnung von Schauspiel und Puppenspiel. Die offene Spielweise, bei der die Darsteller auf der Bühne während des Spiels für das Publikum sichtbar sind, ermöglicht eine vielschichtige Wechselbeziehung zwischen Mensch und Material und eine starke Verschmelzung verschiedener Genres. Alle sieben fest im Ensemble angestellten Spieler des Theaters Waidspeicher haben ein vierjähriges Diplomstudium der zeitgenössischen Puppenspielkunst/ Darstellenden Kunst an der Hochschule für Schauspielkunst ”Ernst Busch” in Berlin abgeschlossen, das neben Puppenspiel auch alle Grundlagen des Schauspiels umfasst. Mühelos schlüpfen sie aus der Rolle derjenigen, die die Puppe animieren, in die Rolle der Schauspieler und wieder zurück.

Aber nicht nur Puppen, selbst scheinbar leblosen Alltagsgegenständen haucht das Ensemble Leben ein: Da verwandelt sich ein ganz gewöhnlicher Schuh in der Hand von Heinrich Bennke im Solo-Stück ”Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes” vor der Leinwand mit Videoanimationen plötzlich in einen grimmigen, sockenstinkenden Räuber. Das gelingt so überzeugend, dass ein Kind neben mir aufgeregt ”Hat der aber ein böses Gesicht!” ins Theaterdunkel flüstert, bevor es sich ein bisschen tiefer in den Polstersessel sinken lässt. Sicher ist sicher. Zackig, humorvoll und mit der genau richtigen Portion Dreck kommt diese Inszenierung daher und steht in wunderbarem Kontrast zu der berührenden Produktion ”Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor”, einer Mischung aus Schauspiel, Schattenspiel, Puppenspiel und Erzähltheater für Kinder ab acht Jahren. Hier nimmt man uns mit auf eine Reise mit der kleinen Toda, die ihre Heimat verlassen muss. Eine Puppe, ein Koffer und ein Stück Kreide reichen aus, um eine ganze Welt zu erschaffen. Wenn wir als Publikum zusammen mit der Spielerin Katrin Blüchert der kleinen Toda ein Zuhause auf den schwarzen Bühnenboden malen, das wenig später dem Wischmopp zum Opfer fällt, dann ist das poetisch und bewegend zugleich.

Von Israel über die USA, von Mexiko, Taiwan, Indien bis Sibirien - zahlreiche Gastspiele im Ausland machen das Theater Waidspeicher mit Inszenierungen wie diesen beiden zu einem wichtigen Kulturbotschafter Thüringens. Auch das alle zwei Jahre stattfindende internationale Puppentheaterfestival Synergura bringt mit herausragendem Puppen- und Objekttheater renommierte KünstlerInnen aus der ganzen Welt nach Erfurt und zieht Gäste aus ganz Deutschland an. Aber es sind nicht nur die Solostücke, weshalb ich gerne im Puppentheater zu Gast bin.

Als kleinstes professionelles Theater Thüringens ist der Waidspeicher unter der künstlerischen Leitung von Intendantin Sibylle Tröster vor allem für hochkarätige Ensemble-Inszenierungen bekannt, weit über die Landesgrenzen hinaus. Märchen-Adaptionen wie ”Die sieben Raben” und ”Das kalte Herz” gehören genauso zu meinen Favoriten wie die Inszenierung ”Atlas der abgelegenen Inseln” nach dem preisgekrönten Buch von Judith Schalansky, die das erwachsene Publikum mitnimmt auf eine theatrale Weltreise. Nicht selten animieren vier bis sieben SpielerInnen gleichzeitig Puppen und Objekte auf der Bühne, in Kinder- wie auch in Abendvorstellungen. Mit einer Virtuosität, die mich an ein großes Orchester erinnert, Note für Note, Handgriff für Handgriff, gelingt es dem Ensemble des Theaters Waidspeicher, den Gebilden aus Pappmaché und Stoff, Holz und Draht eine Seele zu geben und meiner Fantasie eine Tür zu öffnen.

Wenn ich dann, noch immer verzaubert, nach der Vorstellung wieder unten auf dem Domplatz stehe, mitten im Passantentrubel, brauche ich immer eine Weile, bis ich wieder im Hier und Jetzt ankomme. In der Werkstatt des Theaters Waidspeicher und auf der Probebühne wird dann schon wieder an den nächsten Geschichten gewoben, die uns mitnehmen in eine ganz eigene Welt, in der Dinge lebendig werden.

Das Theater Waidspeicher in Erfurt begeistert seine Besucher mit Puppenspiel.

In Thüringen ist Kunst- und Kulturgenuss nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Neben dem Theater Waidspeicher könnt ihr in folgenden Theaterhäusern ebenfalls Puppenspiel erleben: - Theater Altenburg Gera - Staatstheater Meiningen

 

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