Wie’s der Zufall will

Thüringen mit dem Würfel entdecken

Die Idee einer Zufallsreise mit der Bahn haben wir, Tim und Andreas, als eine Art Gegenkonzept zur touristischen Trophäenjagd entwickelt: Nicht bei den von Reiseführern oder Instagramern gepriesenen Sehenswürdigkeiten wollten wir landen, sondern das Unbekannte entdecken – jedes noch so kleine Dorf hat schließlich eine Historie und Einwohner, die es ihr Zuhause nennen.

Und so führte uns unsere erste Zufallsreise mit der Bahn, die wir im Frühjahr 2018 durch unsere Heimat Bayern unternahmen, an Orte wie Tüßling, Gotteszell oder Neufahrn. Den meisten Menschen – selbst in Bayern – dürften sie kein Begriff sein und dennoch hatte jeder dieser Orte Entdeckenswertes zu bieten.

Von Erfurt an die Quellen der Leine

Paradoxerweise stand am Anfang unserer Reise der Besuch einer thüringischen Top-Sehenswürdigkeit: Die Wartezeit bis zu unserer erst am Morgen des 20. August ausgewürfelten Abfahrtszeit am Erfurter Hauptbahnhof (12 Uhr) vertrieben wir uns mit einem kleinen Stadtspaziergang, der uns natürlich auch zur unweit gelegenen Krämerbrücke führte. Traditionell betreiben heimische Galeristen, Kunsthandwerker oder Antiquitätenhändler die kleinen Läden auf der Brücke, die für sich beansprucht, die längste durchgehend mit Häusern bebaute und bewohnte Brücke Europas zu sein.

Um 12 Uhr waren wir dann zurück am Erfurter Hauptbahnhof und nahmen von dort aus den ersten Regionalzug, der abfuhr. Nach dem bei unserem Zufallsverfahren obligatorischen Umstieg an einem Knotenpunkt, bestimmten die Würfel schließlich unseren ersten Halt: Silberhausen im nördlichen Thüringen. Wie eine kurze Internet-Recherche ergab, hatten wir damit gleich einen „Hidden Champion“ erwischt: Silberhausen streitet mit einer Handvoll anderer Gemeinden in der BRD um den Titel „Mittelpunkt Deutschlands“. Leider konnten wir nicht vor Ort recherchieren, worum es bei diesem Streit genau geht: die Regionallinie, mit der wir unterwegs waren, hielt ausgerechnet zum Zeitpunkt unserer Fahrt nicht in Silberhausen. Improvisieren war angesagt und wir entschieden, am nächstmöglichen Halt, in Leinefelde, auszusteigen.

Um kurz nach 13 Uhr ist es dann endlich soweit: Wir erkunden unseren ersten Zufallsort in Thüringen. Wir finden heraus, dass Leinefelde ein Stadtteil der 9000-Einwohner-Gemeinde Leinefelde-Worbis ist, benannt nach dem Fluss Leine, der unüblicherweise mitten in einem Wohngebiet entspringt. Auf dem Weg zur Quelle kommen wir an einem Denkmal vorbei. Es ist Johann Carl Fuhlrott, einem Sohn der Stadt, gewidmet, der im Jahr 1856 – seiner Zeit weit voraus – Knochenfunde im Neandertal nahe Düsseldorf einem urzeitlichen Menschen zuschrieb und sich auf diese Weise einen Ehrenplatz in der Wissenschaftsgeschichte sicherte: Mit seiner Entdeckung beginnt die internationale Erforschung des Neandertalers.

Nachdem wir in Leinefelde zu Mittag gegessen haben – unter anderem probieren wir mit der „Soljanka“ einen russischstämmigen Klassiker der DDR-Küche –, starten wir vom Bahnhof aus zu unserem nächsten Ziel: die Würfel schicken uns diesmal nach Niederspier, rund 50 Kilometer östlich von Leinefelde gelegen. Der Ort im Kyffhäuser-Kreis zählt nur wenige hundert Einwohner – und ist entsprechend schnell von uns erkundet. Dabei bleibt uns die Kirche im Zentrum des Ortes in Erinnerung: Sie ist nicht umgeben von Kirchenmauern, die das Grundstück von anderen abgrenzen. Stattdessen haben wir den Eindruck, dass sie auf Privatgelände – gewissermaßen im Garten eines Anwesens – steht. Leider findet sich niemand, den wir fragen könnten, ob dieser Eindruck richtig ist.

Wir spazieren also zurück zum Bahnhof, wo wir tatsächlich über eine Stunde auf den nächsten Zug warten müssen – auch das gehört zu einer Zufallsreise dazu. Damit ist klar, dass wir heute kein weiteres Ziel mehr ansteuern. Und dennoch war diese Zeit des Wartens an einem kleinen Provinzbahnhof mit verwildertem Bahnwärter-Gebäude eine der entschleunigsten Erfahrungen seit Langem für uns. Darin sind wir uns in der Rückbetrachtung einig.

Mangels Übernachtungsmöglichkeit in Niederspier versuchen wir unser Glück im nahegelegenen Sondershausen.

Von der Bergbaustadt ins Weingebiet

Nach einer erholsamen Nacht in Sonderhausen brechen wir früh auf. 16.000 km² Thüringen liegen vor uns, um entdeckt zu werden. Vorbei am imposanten Schloss schlendern wir durch die ruhigen Straßen der an der Wipper gelegenen Kreisstadt. Statt grauer Bergbau-Atmosphäre kommt am Bahnhof zum Abschied französisches Flair auf: Weit übers Land sichtbar verabschiedet uns das Fördergerüst des Petersschacht, der weltweit tiefsten noch heute befahrbaren Kalimiene. Die geschwungene Stahlkonstruktion wurde auf Wunsch des damaligen Landesfürsten dem Pariser Eifelturm nachempfunden. Chapeau!

Nach diesem stillen ‚Adieu‘ bringt uns der erste Zug zurück nach Erfurt und von dort weiter ostwärts, ehe die Würfel erneut fallen: Großheringen ist das Ziel.

Vorfreude kommt in uns auf, als wir mehr über unser Ziel in Erfahrung bringen: Der thüringische Teil des Weinanbaugebiets Saale-Unstrut kommt uns am Samstagmittag gerade recht. Vor Ort streifen wir etwas orientierungslos bei hochsommerlichen Temperaturen durch die Straßen der Gemeinde. Keine Spur eines Weingutes oder einer Gaststätte.

Weingut Zahn & Thüringer Weinstube in Großheringen

Tipp von den Thüringen-Profis

Das Erlebnisweingut Zahn besticht nicht nur durch die herrliche Lage direkt an der Saale. Vor allem die kulinarische Vielfalt, die regionalen Spezialitäten und außergewöhnliche Events wie Picknick oder Wanderungen in den Weinbergen zeichnen das Weingut aus. Das in dritter Generation familiengeführte Unternehmen gehört zu einem der führenden Weingüter entlang der Saale-Unstrut-Weinregion. Verantwortlich für den Ausbau der Weine ist Kellermeister André Zahn, während die Gastronomie in den Händen von Elvira Zahn-General und Torsten General liegt. Die Gastgeber legen großen Wert auf Frische, Regionalität bzw. auf eine Küche im Einklang mit den Jahreszeiten.

„Habt ihr Euch verlaufen?“ ruft uns eine Männerstimme im thüringischen Dialekt hinterher. Schnell kommen wir mit Rico, einem Straßenbauarbeiter mittleren Alters, ins Gespräch. Wir erklären den Hintergrund unserer Reise und fragen ihn nach einer nahegelegenen Einkehr. Die gäbe es hier nicht, erwidert Rico, aber er könne uns ein Bier anbieten. Wenige Minuten später sitzen wir auf Campingstühlen im Garten seines Hofes und prosten uns mit bayerischem Weißbier zu. Rico erzählt von Leben in Großheringen, von den Herausforderungen im ländlichen Raum und der Geschichte der Gemeinde. „1935 gab es hier ein großes Zugunglück“ resümiert er, „sonst ist hier eigentlich nicht viel passiert.“ Das ruhige Leben auf dem Land scheint ihn aber nicht zu stören, im Gegenteil, Rico wirkt sehr zufrieden. „Das Leben ist ruhig hier, aber so gefällt es mir.“ Rico lächelt verschmitzt in die Sonne.

Nach einem weiteren Bier schlagen wir das Angebot eines gemeinsamen Grillabends schweren Herzens aus. Wir müssen noch weiter!

Zurück am Bahnhof nehmen wir den nächsten Zug und steigen in Ronneburg aus. Durch die engen Gassen der Altstadt erklimmen wir die Burg. Dort oben kann man den Blick über das Land in die Ferne schweifen lassen. Noch bis 1990 baute die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut im Umland Ronneburgs Uranerz ab. Später wurden das ehemalige Abbaugebiet aufwändig renaturiert und in die „Neue Landschaft“ umgewandelt, die sogar Teil der Bundesgartenschau 2007 wurde. Die bunten Blumenwiesen im Schlossgarten zeugen bis heute davon.

Nach einer kurzen Stärkung wartet erneut der Zug auf uns. Die letzte Station für heute: Die ehemalige Residenzstadt Altenburg, in der wir die Nacht verbringen werden.

Spielkarten statt Würfel? Von Altenburg nach Weimar

Auf dem Weg in die Innenstadt fallen uns die zahlreichen imposanten Altbauten auf. Der Markplatz ist vollständig renoviert, in den Randbereichen der Stadt säumen allerhand Villen aus der Gründerzeit die Straßen. Allerdings sind viele davon baufällig, einige sogar einsturzgefährdet. Die renovierten Anwesen vermitteln jedoch einen Eindruck, wie prachtvoll die Stadt einmal ausgesehen haben muss. Bekannt ist Altenburg vor allem für das Skat-Spiel, das hier im Jahre 1810 erfunden wurde. Noch bis heute tagt das internationale Skat-Gericht regelmäßig in der Stadt und klärt strittige Fragen in der Regelauslegung.  Auf die Verbindung zwischen Altenburg und unserer bayerischen Heimat macht uns der Wirt unserer Unterkunft aufmerksam: Am 16. September 1180 belehnte Friedrich I. Barbarossa in Altenburg Otto von Wittelsbach mit dem Herzogtum Bayern. Für die Wittelsbacher ein Segen, für uns eine schöne Pointe.

Schlussendlich weisen uns die Würfel am Ende unserer Reise einen würdigen Abschiedsort zu: Weimar heißt der letzte Halt. Uns bleibt nicht viel Zeit, um durch die Stadt zu streifen, aber die ersten Eindrücke geben einen guten Vorgeschmack: Hierher kommen wir wieder! Und dann nicht zufällig, sondern mit Absicht und mehr Zeit im Gepäck. Auf der Rückfahrt nach München ziehen wir unser Fazit: Wir haben viele unterschiedliche Orte besucht, die wir so nie bewusst angesteuert hätten. Dabei sind wir – auch im Gespräch mit den Menschen vor Ort – auf viele kleine Geschichte und Anekdoten gestoßen, die uns so nicht bekannt waren. Neben dem Thema „Nachhaltigkeit“, das auch in der Touristik zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind es genau diese Aspekte, die uns an dieser Form des Reisens ansprechen.

Für uns steht fest: Der Zufall ist ein hervorragender Reiseführer.

Über Tim und Andreas

Während Tim Frohwein in den vergangenen Jahren als Fußballsoziologe und -journalist auf sich aufmerksam gemacht hat, ist Andreas Münzinger als langjährige rechte Hand des ADAC-Vorstands ganz nah dran an den Trends im Mobilitäts- und Reisebereich. Beide verbindet die Leidenschaft für das Unterwegssein – und beide teilen ihre Reiseerfahrungen gerne: 2016 veröffentlichten sie einen Bericht über ihre Alpenüberquerung, 2018 folgte eine Reportage über ihre erste Zufallsreise durch ihre Heimat Bayern. Das Prinzip der Zufallsreise haben die beiden selbst entwickelt. Die Idee dahinter: in Zeiten, in denen das Leben so stark von Routinen und Verpflichtungen bestimmt ist, in denen Entscheidungen immer gründlich abgewogen sein wollen, einfach mal den Zufall über das nächste Reiseziel bestimmen lassen – und auf diese Weise Entdeckungen abseits der touristischen Trampelpfade machen.

Zufallsreise mit dem Zug durch Thüringen – wie funktioniert‘s?

Die Anzahl der Augen zeigt am Vorabend an, wann ihr am nächsten Morgen am Bahnhof des Übernachtungsortes sein müsst, um dort den ersten Regionalzug zu nehmen, der abfährt. Tipp: Damit nicht viel Wartezeit entsteht bzw. die Zufallsreise nicht zu spät am Tag startet, nehmt vorab uhrzeitliche Einschränkungen vor: Ihr würfelt beispielsweise mit zwei Würfeln so oft, bis eine Zahl zwischen 9 und 11 gefallen ist. Nachdem ihr in den ersten Regionalzug gestiegen seid, erfolgt die Weiterfahrt durch vorher festgelegte Regeln: Ihr könnt beispielsweise an der nächsten Haltestelle, an der Umsteigemöglichkeiten vorhanden sind, wieder aussteigen, um dort abermals den Zug zu nehmen, der als nächstes den Bahnhof verlässt (mit Ausnahme des Rückfahrzuges). In diesem Zug sitzend kommen wieder die Würfel zum Einsatz – und zwar je nachdem, wie weit ihr fahren wollt, einer, zwei oder drei. Die gewürfelten Augen geben an, wie viele Stationen ihr mit dem Zug zurücklegen könnt. An der x-ten Haltestelle steigt ihr aus und erkundet jenen Ort, sprecht mit den Bewohnern, setzt euch mit der Geschichte und den Sehenswürdigkeiten auseinander. Die Dauer des Aufenthalts ist dabei unterschiedlich: Je nachdem, was es zu erleben gibt oder welche Bekanntschaften ihr macht, könnt ihr länger oder kürzer bleiben. Wieder am Bahnhof angekommen, nehmt ihr den ersten Regionalzug, der abfährt. Auf diese Weise könnt ihr zwei bis drei Zufallsorte pro Tag besichtigen. Tipp: Wenn ihr weitere Strecken zurücklegen möchte, steigt nicht am ersten Knotenpunkt um, sondern nach dem zweiten oder dritten – hier könntet ihr die Würfel wieder entscheiden lassen.

 


Hat euch der Artikel gefallen?