Das Bauhaus fiel nicht vom Himmel

Ein Gespräch mit der Kuratorin Sabine Walter, Museum Neues Weimar

Um 1900 engagieren sich in Weimar drei Protagonisten dafür, eine neue glanzvolle Epoche zu etablieren, die sie das Neue Weimar nennen. Die 2019 eröffnete Dauerausstellung im Museum Neues Weimar widmet sich den Akteuren und erzählt anhand herausragender internationaler Werke des Realismus, Impressionismus und des Jugendstils den Aufbruch in die Moderne und damit die Vorgeschichte des Bauhauses in Weimar. Wir sprechen mit Sabine Walter, sie hat als Kuratorin die Dauerausstellung „Van de Velde, Nietzsche und die Moderne um 1900“ im Museum Neues Weimar mitgestaltet.

Sie sagten mal in einem Interview „Moderne um 1900 war eine Mission“ – was genau ist damit gemeint und was ist die Mission dieser Dauerausstellung?

Viele Künstler um 1900, darunter auch Henry van de Velde, sahen die Moderne als eine positive Zukunft, die sie aktiv mitgestalten wollten. Sie empfanden ihre nationalistisch aufgeheizte und moralisch doppeldeutige Gesellschaft im Widerspruch zu den Innovationen im technischen Bereich. Die Starre der Zeit spiegelte sich in den mit Nippes vollgestopften und mit schweren Stoffen verhangenen Wohnungen. Architektur und Einrichtung orientierten sich an der Vergangenheit. 

Umgeben von Renaissance, Barock oder Rokoko könne man nicht neu denken, schrieb Nietzsche. Um den Aufbruch in die Moderne auch im Leben anzustoßen, wandten sich viele Künstler dem Kunstgewerbe zu. Sie wollten nicht nur neue Bilder malen, sondern mit Produkten in einem zeitgemäßen Stil die Gegenwart prägen. Das war die Mission vieler Architekten und Designer: Neue Formen für eine neue Zeit.

Die Mission der Ausstellung in unserem Museum ist, über Kunst Geschichte zu vermitteln, damit wir verstehen, warum wir heute wo sind. Außerdem soll der Besuch einfach Spaß machen.

Im Einleitungstext ist die Rede von drei Protagonisten, die den Weg zur Moderne in Weimar ebneten – können Sie die einzelnen Charaktere und ihr Rolle für uns kurz skizzieren?

Wir stellen den belgischen Kunstreformer Henry van de Velde vor, der neue Formen für neue Menschen schaffen wollte. Der ausgebildete Maler empfand seine Gegenwart als hässlich und wandte sich als Autodidakt der Produktgestaltung zu. Nur eine „vernünftige“, d.h. funktionale, schlichte Gestaltung, war für ihn „schön“. Seine gestalterischen Ansätze beschrieb er in Artikeln und Vorträgen und lehrte sie an der von ihm gegründeten Kunstgewerbeschule in Weimar. 
Van de Velde wird als klein, agil und äußerst charmant beschrieben. Seine wohlhabenden Kunden glaubten an seine Mission. Mit einer von ihm entworfenen Einrichtung positionierten sie sich als modern, aufgeschlossen und stilbewusst. Der Künstler lebte für damalige Verhältnisse recht unkonventionell. Seine Frau Maria, eine starke und selbständige Persönlichkeit, entwarf Reformkleidung, trug bei Tisch selbst auf – was in besseren Kreisen das Personal übernahm – und gärtnerte gern. Die fünf ungetauften Kinder galten als verhaltensauffällig, vermutlich, weil sie nicht mit wilhelminischem Drill erzogen waren. Den ehemaligen Wohnsitz von Henry van de Velde und seiner Familie – Haus Hohe Pappeln in Weimar – sollte man unbedingt besichtigen.  

 

Zudem erzählt die Ausstellung von Harry Graf Kessler, einem wohlhabenden Privatier. Er musste zwar kein Geld verdienen, aber in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft umso mehr eine Aufgabe suchen. Diese fand er in der Förderung der europäischen Avantgardekunst. Als überzeugter Nietzscheaner glaubte er an die Verantwortung von Eliten, an Europa und selbstverständlich an die Moderne. Als ehrenamtlicher Museumsdirektor zeigte er zum Entsetzen der Weimarer progressive Kunst und Kunstgewerbe vor allem aus Frankreich, Belgien und England. Das Verstörende dabei waren nicht nur die neuen Techniken, Formen oder Motive, sondern die Menge der „ausländischen“ Kunst. Nur über einen privaten Finanzier war es Kessler möglich, Werke von Rodin oder Monet für Weimar zu erwerben. 

Raum „Harry Graf Kesslers Ausstellungen in Weimar". Der Oberlichtsaal mit den von Harry Graf Kessler für das Weimarer Museum erworbenen impressionistischen und neo-impressionistischen Werken. ©Thomas Müller, Klassik Stiftung Weimar

Harry Graf Kessler war ungemein elegant, hoch gebildet und sprach drei Sprachen fließend. Dina Vierny, die Muse des Bildhauers Aristide Maillol, erinnerte sich an einen zierlichen Mann mit hoher Stimme. Er verkehrte in Adels- und Künstlerkreisen in ganz Europa. Heute würde man ihn als Networker und vielleicht Influencer bezeichnen. 

Das Museum widmet sich aber auch einer dritten wichtigen Protagonistin der Umbruchszeit um 1900: Elisabeth Förster-Nietzsche. Die Schwester des Philosophen erkannte dessen Potential und gab dem beginnenden Nietzsche-Kult mit dem von ihr gegründeten Nietzsche-Archiv einen Ort. 
Mit Hilfe Harry Graf Kesslers und anderen Förderern baute Elisabeth, die sich nun Förster-Nietzsche nannte, ihr bürgerliches Wohnhaus in Weimar zum Tempel des Nietzsche-Kults aus. Henry van de Velde gestaltete die Innenräume als ästhetisches Gesamtkunstwerk. 

Elisabeth Förster-Nietzsche war eine gewiefte Marketing-Strategin, die ihre vermeintliche „Schwäche“ als ungebildete und verwitwete Frau gezielt einsetzte, um Gönner für sich einzunehmen. Mit Spitzenhäubchen und Lorgnette gab sie die arglose Muhme, gleichzeitig vernichtete sie ihre Kritiker mit schlechter Nachrede und juristischen Mitteln und prägte die künftige Rezeption Nietzsches über Jahrzehnte.  

Raum „Nietzschekult". Die Prellergalerie mit Porträts von Friedrich Nietzsche, darunter zwei berühmte von Max Klinger gestaltete Büsten. ©Thomas Müller, Klassik Stiftung Weimar


Es war auch die Zeit der Lebensreform – also ein Aufbruch in der Gesellschaft. Was ist denn bis heute davon geblieben – also vom Erbe der Moderne, das bis heute lebendig ist?

Wir sind in vielerlei Hinsicht tatsächlich Erben des Aufbruchs um 1900. Unsere heutige Begeisterung für Bewegung im Freien, Licht, Luft, Natur, FKK, das „Vegetariertum“, eine gesunde Kleidung und nicht zuletzt die Emanzipation der Frau sind Positionen aus dieser Zeit. Gleichzeitig stecken wir heute noch in den damaligen Widersprüchen fest: Schon damals legten die Gestalter Wert auf eine „faire“ Produktion im Sinne einer guten Bezahlung der Handwerker oder einer hohen Materialqualität, das heißt Langlebigkeit der Produkte – was zu hohen Preisen führte, die sich nur Wohlhabende leisten konnten. Gleichzeitig sollte der moderne Stil die Gesellschaft verändern. Zukunftsweisende, faire und qualitativ hochwertige Produkte sind heute noch teuer. Der Konflikt ist noch nicht gelöst.


Sie haben die Ausstellung gemeinsam im Team kuriert – worauf sind Sie besonders stolz? 

Ich freue mich, dass wir die Ausstellung als eine ausgesprochen sinnliche Erfahrung realisiert haben. Das ermöglichen einerseits die starken Wandfarben. Sie unterstreichen die Ästhetik der Objekte. Bei der Farbwahl haben wir uns von Henry van de Velde inspirieren lassen, der diese ungewöhnlichen Töne für Tapeten oder Textilien verwendet hat. Der Raum mit der Weimarer Malerschule ist von einem hellen Grau, das auch die Stimmung der Gemälde wiedergibt. Das dunkle Grün im Raum mit den Möbeln aus der Wartburg entspricht exakt den Befunden aus dem Zimmer, wo die Liege und der Stuhl im 19. Jahrhundert standen. 


Andererseits machen die zahlreichen Möglichkeiten zum Anfassen und Mitmachen die besondere Sinnlichkeit der Präsentation aus. Die Ausstellung ist ein interaktives Erlebnis für die ganze Familie. Man kann beispielsweise den Unterschied zwischen akademischer Feinmalerei und der neuen, pastosen Technik anhand von Gemäldeproben fühlen. Ein Fragespiel testet, ob und wie man sich bei „feinen Leuten“ benehmen kann und prüft so die „kulturelle Kompetenz“. Denn das Kennen und Besitzen von Kunst und Stil, diente vor allem auch zur Veranschaulichung des sozialen Status. Und zum Schluss dürfen alle gegen rückwärtsgewandtes Verharren ankämpfen und historistische Elemente an einem funktionalen, „modernen“ Möbel im wörtlichen Sinne abklopfen.


Wir hatten eine tolle Zusammenarbeit mit allen Beteiligten. Im Kuratorenteam war ein freies Denken und ein Formulieren auch ins Blaue hinein möglich. Ich werde häufig darauf angesprochen, dass man der Ausstellung unseren Spaß beim „Machen“ anmerke.


Eröffnet wurde die Ausstellung 2019 im Jubiläumsjahr „100 Jahre Bauhaus“. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Bauhaus-Museum Weimar. War es eine Herausforderung sich inhaltlich abzugrenzen und worin bestehen die signifikanten Unterschiede?

Die inhaltliche Abgrenzung war einfach, denn die Häuser bauen aufeinander auf. Im Museum Neues Weimar zeigen wir die frühe Moderne mit den Schwerpunkten Malerei der Weimarer Malerschule sowie Impressionismus und natürlich den Jugendstil Henry van de Veldes und seiner Schule. Das Bauhaus dagegen kommt im 20. Jahrhundert an. Die Ausstellung im Bauhaus-Museum Weimar geht aus von Gropius‘ Fragestellung von 1924 „wie wollen wir wohnen, wie wollen wir leben?“

Man könnte auch sagen: Das Bauhaus fiel nicht vom Himmel! Wer die Hintergründe der Entstehung verstehen will, für den bildet die Dauerausstellung im Neuem Museum Weimar eine ganz wunderbare Grundlage. 

Neues Museum Weimar. Das ehemals Großherzogliche Museum wurde 1869 als einer der ersten deutschen Museumsbauten errichtet. Im April 2019 eröffnete das zuletzt für Wechselausstellungen genutzte Neue Museum mit einer ständigen Präsentation der Kunst der frühen Moderne von der Weimarer Malerschule bis zu Henry van de Velde. ©Jens Hauspurg, Klassik Stiftung Weimar


Das schönste Lob für Sie ist sicherlich auch das Feedback der Besucher. Gibt es „Aha-Momente“ von denen Ihnen berichtet wurde, die Sie besonders freuen? 

Die Rückmeldungen einer Grundschulklasse war für mich sehr eindrucksvoll. Kurz nach Ausstellungseröffnung schrieben mir die Kinder und wiesen auf eine fehlerhafte Beschriftung hin. Auf einer langen Tafel zur Erläuterung einzelner Besteckteile von Henry van de Velde hatte ich tatsächlich ein Objekt, einen kleinen Mokkalöffel oder ähnliches, vergessen. Da habe ich gestaunt, wie genau sich die Kinder mit solchen Details auseinandergesetzt haben.

Bei einer Führung mit Jugendlichen wurden unter Gekicher die Behaarung der weiblichen Akte auf einem neoimpressionistischen Gemälde von Théo van Rysselberghe thematisiert. Das ist tatsächlich auffallend, denn in der Kunstgeschichte sind die Akte normalerweise nicht behaart. Der Maler will aber eine unverstellte, unakademische Nacktheit zeigen, jene freie Bewegung in der Natur, von der ich oben sprach. Dass mehr hinter diesen Akten steckt, haben die Jugendlichen erkannt und sich getraut, das peinliche Thema anzusprechen: Hut ab.

Ein weiterer Aha-Moment ist die Führung für französische oder US-amerikanische Gäste. Sie erkennen schon beim Betreten des Gebäudes, dass Daniel Buren das Treppenhaus gestaltet hat. Der französische Konzeptkünstler ist in Deutschland weniger bekannt. 

Künstler: Théo van Rysselberghe, Gegenstand: Badende Frauen (L' Heure embrasée, Het blakende uur), Datierung: 1897. ©Renno, Klassik Stiftung Weimar, Bestand Museen 


Zum Abschluss würden wir sie gern noch nach jeweils drei Tipps bzw. persönlichen Favoriten fragen: Welches sind Ihre drei Lieblings-Exponate und warum?

  • Ich liebe unsere Nachbauten. Wir haben historische Stühle nachbauen lassen zur Benutzung für die Besucher und es macht richtig Spaß, sich in einen Vollmer-Armlehnsessel zu setzen und die Werke im Raum zu betrachten wie zu Kesslers Zeiten.
  • Der Bloemenwerf-Stuhl von Henry van de Velde ist eine Ikone des Jugendstils. Ich mag das Exponat gern, weil es im Vergleich zu den späteren eleganten Gestaltungen noch ungelenk und asketisch wirkt, aber mit seiner architektonischen, an den Eiffelturm erinnernden Konstruktion die Grundidee einer funktionalen Gestaltung beinhaltet.
  • Als dritten Liebling habe ich einen ganzen Raum: Der blaue Saal mit den Impressionisten und Neoimpressionisten ist ein „Genuss für die Sinne“ wie die Presse schrieb

 

Was sollten Gäste in Thüringen noch gesehen haben? Ihre drei Empfehlungen.

  • Das Nietzsche-Archiv mit der neuen Dauerausstellung und den restaurierten Details ist sehr sehenswert. Nietzsche wird einfach und spielerisch erklärt und die Räume sind wahre Juwelen des Jugendstils.
  • Das Haus Hohe Pappeln als Wohnhaus der Familie van de Velde muss man gesehen haben. Es ist ästhetisch durchkomponiert und doch familiär. Gerade im Frühling ist der Garten als Teil des Gesamtkunstwerks ein Muss.
  • Dann empfehle ich das Haus Schulenburg in Gera, ein Palast im Vergleich zum Nietzsche-Archiv oder zum Haus Hohe Pappeln. In dem privat geführten Museum sind viele faszinierenden Exponate zu sehen.

 

Aus Thüringen in die Welt

Bauhaus und Moderne

Das neue Denken und Schaffen der Visionäre dieser Zeit hat das Verständnis und die Entwicklung von Kunst und Design in vielen Bereichen weltweit grundlegend verändert. Und die Wiege dieser bahnbrechenden Erfolgsgeschichte war Weimar. Erfahrt, wie der Geist des Bauhauses in Thüringen weiterlebt und entdeckt die vielen Zeugnisse dieser besonderen Zeit.

Headermotiv: Museum Neues Weimar ©Thomas Müller, Klassik Stiftung Weimar

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